Zur Höhle des Löwen

Der Holzwagen bietet ausreichend Platz für das Bett und ein paar Personen. Neben Michal sitzen noch zwei der königlichen Gesandten im Wagen und passen auf. Vier Pferde ziehen sie über einen mit Schlaglöchern übersäten Weg. Aus Angst, der Terafim könnte vom Bett fallen oder die Decke von ihm herabrutschen, hat sich Michal auch auf das schmale Bett gelegt und bemüht sich, alles festzuhalten. Sie versucht, es so wirken zu lassen, als würde sie sich um ihren Mann sorgen, hält die Statue an der Schulter fest und streicht über das Ziegenhaar, wie sie David immer durchs Haar gestrichen hat. Dadurch verhindert sie, dass es herunterfällt und der Betrug vorzeitig auffliegt. Währenddessen überlegt sie fieberhaft, was sie tun sollte, wenn ihr Vater diesen entdeckt. Denn das ist unvermeidlich. Wie soll ich das nur erklären? Vater wird toben, wenn er das sieht. Wieso wollte ich eigentlich mitkommen? Wer weiß – vielleicht fahre ich gerade in meinen Tod …
„Prinzessin, es ist wirklich rührend, wie Sie sich um ihren Mann sorgen, aber er scheint schon tot zu sein. So steif und regungslos, wie der in seinem Bett liegt …“ Überrascht dreht Michal den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein Mann mit rotbraunen Haaren, einem kurzen Bart und edler Kleidung schaut sie mitleidig an. „Es tut mir wirklich leid für Sie,“ fügt er hinzu.
„Aber Sie haben ihn doch zum König bringen wollen, damit dieser ihn tötet,“ wendet sie ein.
„Das muss nicht unbedingt heißen, dass man dem zustimmt. Aber sich dem königlichen Befehl zu widersetzen hat ernste Konsequenzen.“
„Na und? Es geht hier um das Leben eines Unschuldigen!“ Michal sieht ihn verständnislos an.
„ … Ich fürchte, so selbstlos bin ich nicht, dass ich meine Stellung oder gar mein Leben für jemanden riskiere, den ich nicht persönlich kenne.“
Sie mustert ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Das ist erbärmlich,“ sagt sie trocken und wendet sich von ihm ab.

Während der restlichen Fahrt spricht Michal mit niemandem mehr. Aber sie haben sowieso innerhalb weniger Minuten die Residenz des Königs erreicht. Es ist nicht wirklich ein prunkvoller Palast, eher ein großes, umzäuntes, schönes Herrenhaus. Drumherum sind Pferdeställe, aus denen Schnauben und Wiehern und das Rufen von Stallknechten zu hören ist . „Wir sind da!“ ruft der Gruppenführer. „Sagt dem König Bescheid!“
Einer der vor dem Haus postierten Wächter läuft in die Residenz, um dem König die Ankunft seiner Boten mitzuteilen. Währenddessen kommen einige Knechte angelaufen, um die Pferde abzusatteln, von denen die Boten gerade absitzen. Auch in den Wagen, in dem Michal halb auf dem Terafim lag, kommt Bewegung. Die Männer helfen ihr herunter und heben Davids Bett heraus, das sie zum Eingang tragen. Michal folgt ihnen mit klopfendem Herzen. Wie wird ihr Vater reagieren, wenn er sieht, dass nicht David im Bett liegt, sondern eine Statue?
Sie betreten das Haus und folgen einem breiten Gang zum „Thronsaal“. Es ist kein besonders großer Saal, aber groß genug, um darin Gespräche und Verhandlungen zu führen. Da Saul der erste König Israels ist, ist alles noch recht schlicht gehalten. Richtige Königspaläste müssen hierzulande erst noch gebaut werden.
Der vorausgeeilte Wächter steht vor der Tür. „Saul erwartet euch bereits. Er hat schlechte Laune,“ raunt er ihnen zu. Dann öffnet er ihnen die Tür und verkündet: „Eure Majestät, die Boten. Mit David und Michal.“
[Fortsetzung folgt…]

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